Eliane Bertschi
Tears Do Not Fall In Space
2.08.2024 - 01.09.2024
︎︎︎http://www.elianebertschi.com
Eliane Bertschi – Tears Do Not Fall In Space
Text: Bassma El Adisey
Photo: Roman Gaigg
Drei Schicksalsfrauen – Urd, Norne der Vergangenheit, Verdandi, Norne der Gegenwart und Skuld, Norne der Zukunft – sitzen gemäß nordischer Mythologie versammelt unter der Weltenesche am Urfluss. Dort legen sie Zweige aus und bestimmen so das Schicksal der Menschen. Mir erscheint das irgendwie gruslig, vor allem angesichts des Elends und Horrors, dem sich die Bewohner_innen der Erde stellen müssen. Abgestammt von Gottwesen, Zwergen oder Elfen gibt es nicht nur die drei Ur-Nornen. Der Titel Aorist der Arbeit von Eliane Bertschi (*1990), in die uns die Künstlerin mit Tears Do Not Fall In Space im Kunstraum Aarau einen Einblick gewährt, lässt jedoch vermuten, dass ein Bezug zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nahe liegt.
Der Aorist ist eine indogermanische Zeitform, die eine punktuelle, abgeschlossene Handlung beschreibt. Seine Verwendung erscheint kompliziert zu erklären – mir leuchtet folgender Vergleich ein: Finden und Suchen beschreiben eigentlich das Gleiche – beim einen steht das Endergebnis im Vordergrund, beim anderen der Prozess. Was finden wir im Kunstraum? Da ist eine Videoarbeit im Erdgeschoss. Vier oder vielleicht auch nur drei Jugendliche stehen im Zentrum ihrer Darstellung. Denn während drei von ihnen auch mittels ausgefallener Kostüme als Protagonist_innen erkennbar werden, nimmt eine vierte Figur eher die erzählende Rolle ein. Um ein Feuer versammelt, sitzen sie in der Abenddämmerung. Eine Art Fackel wird von einer Hand gehalten. Einige trinken milchige Flüssigkeit aus Plastikbechern, andere saugen an Jellysticks. Ihre Erscheinung ist eigenartig, sie wirken verkleidet. Kommen sie von einem Mittelaltermarkt? An den Schultern einer Figur glänzt ein metallener Panzer. Sie trägt prothesenartige Elfenohren aus Plastik, unter denen rosa schillernde Blütenohrringe zu erkennen sind. Eine andere Figur trägt so etwas wie ein Kettenhemd, von dem nicht gesagt werden kann, ob es tatsächlich aus Metallgliedern oder nur aus Lurex besteht. In ihrem Gesicht funkeln Glitzersteinchen. Sie formen zwei Dreiecke unter den Augenlidern – zwei Zeichen zwischen traditioneller Stammesbemalung und futuristischem Gesichtsschmuck. Ähnlich verhält es sich mit den Ohrringen der dritten Figur; soll das ein Knochen sein? Und kleben da grüne Schleifchen in ihrem Gesicht? Vielleicht sehen wir hier Gestrandete einer Fantasy-Convention, die sich nach einer Autopanne gezwungen sahen, den gewohnten Schein des PC-Bildschirms gegen die züngelnden und warmen Lichtflammen einer natürlichen Energiequelle zu tauschen. Wer dann auch ausgeklügelte Bühnendialoge erwartet, wird schnell enttäuscht. Die Jugendlichen sprechen über Bubble Tea, den sie spaßhaft Gen Z Tea nennen – ohne zu wissen, dass das kalte, meist mit Tapioka oder einer anderen Speisestärke versetzte Getränk bereits in den 1980er-Jahren in Taiwan erfunden wurde. Unter ihrem Sternenhimmel zieht Kim Kardashian noch wie ein leuchtender Komet über den Gesprächshorizont, und im Hintergrund läuft ein Song von Billie Eilish, den ich erst googeln musste, um herauszufinden, dass er my future heißt. Anscheinend verarbeitet der für seine bittersüßen Texte bekannte Popstar darin die Schwierigkeiten, das vergangene Ich abzulegen und sich der neuen Liebe zur unbekannten Zukunft hinzugeben. Bei Bertschi wird mitgesummt und gesungen. Das Feuer brennt, der Rauch zieht weiter.
Vielschichtig werden in diesem Kapitel ihrer neuesten Arbeit Aspekte alter und neuer Mythologien verwebt. Eliane Bertschi (*1990 in Aarau) hat Film an der Hochschule in Luzern studiert sowie Performance am Institut Supérieur des Arts et Chorégraphies an der Académie royale des Beaux-Arts in Brüssel. In ihrem multidisziplinären Schaffen setzt sie sich mit transformativen Systemen auseinander, die individualistische Wahrheits- und Wissensproduktionen hinterfragen. Mit Aorist befragt die in Zürich und Brüssel lebende Künstlerin die Verbindung von Vorstellungskraft und Landschaftserzählung. Dabei entstehen neue Narrative eines vergessenden Erinnerns. Nicht nur die Filmsequenz, die im Kunstraum Aarau zu sehen ist, verweist auf die Möglichkeit der erkundenden Wiederaneignung von Mythologien.
Unweit vom Ort, an dem Tears Do Not Fall In Space vom 2. August bis zum 1. September 2024 zu sehen ist, schlummert im Depot der heimlichen Nationalgalerie der Schweiz ein Bild von Max von Moos (1903–1979). Drei Nornen (1964) ist ein spätsurrealistisches Gemälde. Von Moos' dargestelltes Trio reliefartiger Holzbüsten ist für mich an Schaurigkeit schwer zu übertreffen – der Künstler hält sich wohl eher an den Ursprungsmythos. Milchige Farbsprenkel verleihen den Schicksalsfrauen auf von Moos' Leinwand warzige Antlitze. Ihre Maskenhaftigkeit schafft den Eindruck unbeseelter Theatralität. Diese Künstlichkeit ist zwar auch Bertschis Schicksalsfiguren einverleibt; vielleicht wird im Obergeschoss deshalb ein besonderer Fokus auf das Styling der drei Protagonist_innen gelegt. Die Besuchenden treten dort in eine Höhle oder eher Ausgrabungsstätte der Zukunft. Zwischen vereinzelten Filmrequisiten findet eine erneute Begegnung mit Bertschis Nornen statt. Mehrere metallisch glänzende und computerbearbeitete Filmstills hängen an den Wänden. Es sind teilabstrahierte Porträts der Filmfiguren, die wir ohne weiteres Wissen vielleicht als KI-generiert abgestempelt hätten.
Welche Bilder bleiben, wenn wir nicht mehr auf der Erde sind? Gestern waren es Bilder, wie von Moos sie malte, von schaurigen Hexen, deren übernatürliche Macht uns das Gefühl verleiht, wir hätten keinen Einfluss auf unsere Welt. (– „But aren't I someone?“) Was dort geschah, ist außerhalb von Raum und Zeit und so fallen Tränen des Kummers, des Leids und der Freude ewig eingefroren in der Luftleere namens Geschichte. Heute bleibt vielleicht die Hoffnung, das immerwährende Stürzen als Schweben in einem Vakuum der offenen Möglichkeiten zu begreifen. Der Rauch zieht um die Gesichter und ich höre: „Karma is calling!“.
Off the alphabet 2024
230mm x 150mm Aluminiumverbundplatte, silber gebürstet, Digitaldruck
In the clouds 2024 Tears Do Not Fall In Space
2.08.2024 - 01.09.2024
︎︎︎http://www.elianebertschi.com
Eliane Bertschi – Tears Do Not Fall In Space
Text: Bassma El Adisey
Photo: Roman Gaigg
Drei Schicksalsfrauen – Urd, Norne der Vergangenheit, Verdandi, Norne der Gegenwart und Skuld, Norne der Zukunft – sitzen gemäß nordischer Mythologie versammelt unter der Weltenesche am Urfluss. Dort legen sie Zweige aus und bestimmen so das Schicksal der Menschen. Mir erscheint das irgendwie gruslig, vor allem angesichts des Elends und Horrors, dem sich die Bewohner_innen der Erde stellen müssen. Abgestammt von Gottwesen, Zwergen oder Elfen gibt es nicht nur die drei Ur-Nornen. Der Titel Aorist der Arbeit von Eliane Bertschi (*1990), in die uns die Künstlerin mit Tears Do Not Fall In Space im Kunstraum Aarau einen Einblick gewährt, lässt jedoch vermuten, dass ein Bezug zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nahe liegt.
Der Aorist ist eine indogermanische Zeitform, die eine punktuelle, abgeschlossene Handlung beschreibt. Seine Verwendung erscheint kompliziert zu erklären – mir leuchtet folgender Vergleich ein: Finden und Suchen beschreiben eigentlich das Gleiche – beim einen steht das Endergebnis im Vordergrund, beim anderen der Prozess. Was finden wir im Kunstraum? Da ist eine Videoarbeit im Erdgeschoss. Vier oder vielleicht auch nur drei Jugendliche stehen im Zentrum ihrer Darstellung. Denn während drei von ihnen auch mittels ausgefallener Kostüme als Protagonist_innen erkennbar werden, nimmt eine vierte Figur eher die erzählende Rolle ein. Um ein Feuer versammelt, sitzen sie in der Abenddämmerung. Eine Art Fackel wird von einer Hand gehalten. Einige trinken milchige Flüssigkeit aus Plastikbechern, andere saugen an Jellysticks. Ihre Erscheinung ist eigenartig, sie wirken verkleidet. Kommen sie von einem Mittelaltermarkt? An den Schultern einer Figur glänzt ein metallener Panzer. Sie trägt prothesenartige Elfenohren aus Plastik, unter denen rosa schillernde Blütenohrringe zu erkennen sind. Eine andere Figur trägt so etwas wie ein Kettenhemd, von dem nicht gesagt werden kann, ob es tatsächlich aus Metallgliedern oder nur aus Lurex besteht. In ihrem Gesicht funkeln Glitzersteinchen. Sie formen zwei Dreiecke unter den Augenlidern – zwei Zeichen zwischen traditioneller Stammesbemalung und futuristischem Gesichtsschmuck. Ähnlich verhält es sich mit den Ohrringen der dritten Figur; soll das ein Knochen sein? Und kleben da grüne Schleifchen in ihrem Gesicht? Vielleicht sehen wir hier Gestrandete einer Fantasy-Convention, die sich nach einer Autopanne gezwungen sahen, den gewohnten Schein des PC-Bildschirms gegen die züngelnden und warmen Lichtflammen einer natürlichen Energiequelle zu tauschen. Wer dann auch ausgeklügelte Bühnendialoge erwartet, wird schnell enttäuscht. Die Jugendlichen sprechen über Bubble Tea, den sie spaßhaft Gen Z Tea nennen – ohne zu wissen, dass das kalte, meist mit Tapioka oder einer anderen Speisestärke versetzte Getränk bereits in den 1980er-Jahren in Taiwan erfunden wurde. Unter ihrem Sternenhimmel zieht Kim Kardashian noch wie ein leuchtender Komet über den Gesprächshorizont, und im Hintergrund läuft ein Song von Billie Eilish, den ich erst googeln musste, um herauszufinden, dass er my future heißt. Anscheinend verarbeitet der für seine bittersüßen Texte bekannte Popstar darin die Schwierigkeiten, das vergangene Ich abzulegen und sich der neuen Liebe zur unbekannten Zukunft hinzugeben. Bei Bertschi wird mitgesummt und gesungen. Das Feuer brennt, der Rauch zieht weiter.
Vielschichtig werden in diesem Kapitel ihrer neuesten Arbeit Aspekte alter und neuer Mythologien verwebt. Eliane Bertschi (*1990 in Aarau) hat Film an der Hochschule in Luzern studiert sowie Performance am Institut Supérieur des Arts et Chorégraphies an der Académie royale des Beaux-Arts in Brüssel. In ihrem multidisziplinären Schaffen setzt sie sich mit transformativen Systemen auseinander, die individualistische Wahrheits- und Wissensproduktionen hinterfragen. Mit Aorist befragt die in Zürich und Brüssel lebende Künstlerin die Verbindung von Vorstellungskraft und Landschaftserzählung. Dabei entstehen neue Narrative eines vergessenden Erinnerns. Nicht nur die Filmsequenz, die im Kunstraum Aarau zu sehen ist, verweist auf die Möglichkeit der erkundenden Wiederaneignung von Mythologien.
Unweit vom Ort, an dem Tears Do Not Fall In Space vom 2. August bis zum 1. September 2024 zu sehen ist, schlummert im Depot der heimlichen Nationalgalerie der Schweiz ein Bild von Max von Moos (1903–1979). Drei Nornen (1964) ist ein spätsurrealistisches Gemälde. Von Moos' dargestelltes Trio reliefartiger Holzbüsten ist für mich an Schaurigkeit schwer zu übertreffen – der Künstler hält sich wohl eher an den Ursprungsmythos. Milchige Farbsprenkel verleihen den Schicksalsfrauen auf von Moos' Leinwand warzige Antlitze. Ihre Maskenhaftigkeit schafft den Eindruck unbeseelter Theatralität. Diese Künstlichkeit ist zwar auch Bertschis Schicksalsfiguren einverleibt; vielleicht wird im Obergeschoss deshalb ein besonderer Fokus auf das Styling der drei Protagonist_innen gelegt. Die Besuchenden treten dort in eine Höhle oder eher Ausgrabungsstätte der Zukunft. Zwischen vereinzelten Filmrequisiten findet eine erneute Begegnung mit Bertschis Nornen statt. Mehrere metallisch glänzende und computerbearbeitete Filmstills hängen an den Wänden. Es sind teilabstrahierte Porträts der Filmfiguren, die wir ohne weiteres Wissen vielleicht als KI-generiert abgestempelt hätten.
Welche Bilder bleiben, wenn wir nicht mehr auf der Erde sind? Gestern waren es Bilder, wie von Moos sie malte, von schaurigen Hexen, deren übernatürliche Macht uns das Gefühl verleiht, wir hätten keinen Einfluss auf unsere Welt. (– „But aren't I someone?“) Was dort geschah, ist außerhalb von Raum und Zeit und so fallen Tränen des Kummers, des Leids und der Freude ewig eingefroren in der Luftleere namens Geschichte. Heute bleibt vielleicht die Hoffnung, das immerwährende Stürzen als Schweben in einem Vakuum der offenen Möglichkeiten zu begreifen. Der Rauch zieht um die Gesichter und ich höre: „Karma is calling!“.
Off the alphabet 2024
230mm x 150mm Aluminiumverbundplatte, silber gebürstet, Digitaldruck
1760mm x 980mm Aluminiumverbundplatte, silber gebürstet, Digitaldruck
Installation view Eliane Bertschi - Tears Do Not Fall In Space Kunstraum Aarau 2024
Installation view Eliane Bertschi - Aorist Kunstraum Aarau 2024